Verborgene Potenziale und interdisziplinäre Zusammenarbeit

Verborgene Potenziale und interdisziplinäre Zusammenarbeit

Interview mit Assoc. Prof. Dr.-Ing. M.Sc. Eng. Arch. Hanaa Dahy

raumprobe wird 18 – wir blicken zurück und dabei kommt uns eine Weggefährtin immer wieder und besonders in den Sinn: die mehrfache Materialpreisträgerin Hanaa Dahy, früher Juniorprofessorin an der Uni Stuttgart und aktuell Associate Professorin an der Aalborg University, hat sowohl die Auszeichnung für besondere Materialien als auch die Auszeichnung für besonderen Materialeinsatz bereits mehrfach gewonnen: 2016 mit der frei formbaren kompostierbaren HDF-Platte, 2019 mit dem BioMat Pavillon Flexible Forms, 2021 mit dem BioMat Pavillon LightPRO Shell und 2022 mit dem Myzelverbundstoff an Rattangerüst. Als Materialliebhaberin mit einem besonderen Faible für biobasierte Materialien ist sie für uns entsprechend eine besondere Gesprächspartnerin. Bild: BioMat LightPRO Shell Pavilion 2021 © BioMat

Liebe Hanaa Dahy, Du hast schon sehr viel erreicht in Deinem Leben. Kannst Du uns kurz über Deinen Werdegang und die wichtigsten Stationen berichten?

Die ersten Schritte unternahm ich 2003, als ich meinen Bachelor-Abschluss in Architekturingenieurwesen mit Auszeichnung an der Ain Shams Universität in Kairo absolvierte. Dort begann ich auch als selbständige Beraterin und Architektin, eröffnete mein erstes Büro und wurde als Subunternehmerin für verschiedene Projekte engagiert. Meine ersten bearbeiteten Projekte waren zwei Krankenhäuser, dann folgten viele private und öffentliche Gebäude. Meinen Mastertitel erhielt ich 2006 ebenfalls in Kairo, um dann 2009 den Weg für meine Promotion in Stuttgart einzuschlagen. Dort begann ich die digitale Fertigung in der Architektur einzusetzen und von der industriellen Vernetzung in Deutschland zu profitieren. Auf Grundlage von Biomaterialien entwickelte ich verschiedene nachhaltige Lösungen für die Architektur und ließ einige dieser Entwicklungen lokal und international patentieren. Nachdem ich 2014 meinen Doktortitel mit Exzellenz erworben hatte, erhielt ich durch mein erstes geschriebenes Industrieprojekt PLUS ebenfalls eine Post-Doc-Stelle an der Universität Stuttgart, Fakultät für Architektur. 
Bild: Hanaa Dahy mit maßgeschneiderten Bioverbundwerkstoff-Fassadenpaneelen aus Flachs © Bernhard Widmann

Kurz darauf, im Jahr 2016, wurde ich auf meine erste Professur in Stuttgart berufen, wo die erste BioMat-Gruppe ins Leben gerufen wurde. Danach wurde meine hier angewandte Design-Philosophie mit dem Namen "Materials as a Design Tool" zur Marktreife gebracht, indem ich im Jahr 2022 die BioMat TGU bei der TTI GmbH gründete. Durch die derzeitige Professur in Kopenhagen an der Aalborg University wurde dort 2022 ein Forschungszentrum mit dem Namen BioMat@Copenhagen (Bio-based Materials and Material Cycles in the Building Industry) gegründet, um den Anwendungsbereich auch global auszuweiten. Zwischen all diesen Zeitspannen war es möglich, viele Preise auf lokaler und internationaler Ebene zu gewinnen. Neben den Materialpreis wurde ich kürzlich mit der Michael Owen Jones Distinguished Lectureship der University of Virginia, School of Architecture (UVA), ausgezeichnet, erhielt 2021 den Silver Focus International Award, gehörte zu den drei Besten beim Tamayouz Exzellenz Award für Frauen in Architektur und Bauwesen im Nahen Osten und in Nordafrika und wurde außerdem für viele Preise nominiert, darunter den Dezeen Award 2022 und vor kurzem den ägyptischen Arts State Merit Award. BioMat wird dieses Jahr (2023) auch auf der renommierten Biennale-Ausstellung in Venedig durch das ECC (European Cultural Centre) vertreten sein.
Bild: Hanaa Dahy mit UR Robot © Bernhard Widmann

Was hat sich seit Deinem letzten Gewinn beim Materialpreis getan? Gibt es spannende Neuerungen Eurerseits im Bereich Material oder auch bei den Forschungspavillons in Stuttgart und Kopenhagen?

Der letzte Materialpreis war zeitgleich mit der Initiierung des BioMat@Copenhagen Research Centre an der Universität Aalborg, dessen Kick-off im letzten Jahr durch den Gewinn des EU-Projekts REPurpose als einer der weiteren zehn Partner aus der EU initiiert wurde, in dem recyceltes Papier und Kunststoffe zu neuartigen Kunststoffen für die Bau- und Automobilindustrie verarbeitet werden. Als Architektur-und Designschaffende werden wir aus den neu entwickelten Materialien verschiedene Bauelemente entwerfen und verarbeiten. Parallel dazu werden sowohl in Kopenhagen als auch in Stuttgart Entwicklungen auf dem Gebiet der additiven Fertigungstechnologien für die Architektur vorangetrieben. TFP ( Maßgeschneiderte Faserplatzierungstechnik/ Tailored Fibre Placement) und der 3D-Druck von Naturfasern und biobasierten Bindemitteln werden derzeit in meinen Gruppen intensiv bearbeitet. TFP ist eine additive Fertigungstechnik, die aus der Textil- und Flugzeugindustrie gewonnen wurde, um Leichtbaustrukturen durch die Platzierung von Fasern an den Stellen des Bedarfs und der Kraftrichtung herzustellen. Eine 1:1 3D-gedruckte Säule aus Biokunststoff und Naturfasern wird dieses Jahr auf der Biennale in Venedig präsentiert. Auch ein Schirm aus pultrudierten Naturfasern wird ebenfalls auf der selben Ausstellung in Venedig vorgestellt.

Tailored biocomposite facades- Credit BioMat- Photo by Masih Imani_wg.jpg
BioMat Facades 2022 © BioMat, Masih Imani
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BioMat Pavillion 2021 © BioMat
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BioMat Pavillion 2020 © BioMat
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BioMat Canopy 2019 © BioMat
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BioMat Pavillion 2018 © BioMat
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Wärst Du in der Jury eines Awards, bei dem es um Materialität in der Architektur ginge: gäbe es ein Aspekt bei der Beurteilung, auf den Du besonders Wert legen würdest?

Ein wichtiger Aspekt ist die Nachhaltigkeitsperspektive und die clevere Anwendung des Materials, das nur benötigt wird. Auch die Kreislaufwirtschaft und die Fähigkeit, mit weniger viel zu erreichen, sind ein Thema. Der sorgsame Umgang mit Ressourcen muss in der Architektur Priorität haben, und das kann nur erreicht werden, wenn andere, erneuerbare Ressourcen ernster genommen und mit hoher Professionalität eingesetzt werden. Wenn konventionelle Materialien wie Beton und Metall immer noch benötigt werden, müssen auch hier intelligente Lösungen gefunden werden, um mit weniger mehr zu erreichen. Modularität und Leichtigkeit sind mögliche Lösungen dafür.
Bild: Fassadenmaterialien aus Bioverbundwerkstoff © BioMat

Was ist der Reiz für Dich an Biobasierten Materialien in der Architektur?

Ein großer Anreiz ist die schnelle Erneuerbarkeit und die Kreislaufwirtschaft, wenn wir zum Beispiel von Pflanzenfasern sprechen. Auch die Leichtigkeit und Unkonventionalität sind sehr attraktiv. Als ich mit Strohfasern begann, wurde durch die Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Chemie und Materialingenieurwesen klar, dass Stroh die gleichen Bestandteile enthält wie Holz, und das ist bei den meisten Pflanzen der Fall. Sie haben die gleichen Bestandteile, aber in unterschiedlichen Anteilen. Gleichzeitig gilt Stroh als Abfall und wird auf verschiedenen Kontinenten weltweit auf offenen Feldern verbrannt, während Holz aufgrund seiner Struktur und Qualität mit Sorgfalt behandelt und geschätzt wird. 
Bild: Gebogenes Bioflexi-Material © Dahy

Die Frage, die sich mir stellte, war, warum wir nicht ähnliche Holzprodukte aus Stroh herstellen und die Eigenschaften nach unseren Bedürfnissen einstellen können, wobei wir uns auf die heute verfügbaren Technologien stützen, die im Vergleich zu früheren Zeiten etwas Besonderes sind. Diese Frage wurde definitiv auch von anderen gestellt, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es sich dabei gleichzeitig auch um Design- oder Architekturschaffende handelte. Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen offenbarte die verborgenen Potenziale und nach den ersten Entwicklungen, die zum Produkt Bio-flexi geführt haben, war klar, dass Biomaterialien aus jährlich erneuerbaren Naturfasern noch so viele unentdeckte Anwendungs-, Gestaltungs- und Konstruktionspotenziale für unsere gebaute Welt haben.
Bild: Bioflexi-Paneele © BioMat

Biomat Pavilion 2018_8_Credit BioMat_w_2.jpg
Biomat Pavilion 2018
© BioMat
Du bist Gründerin und Leiterin der BioMat Gruppen in Stuttgart und Kopenhagen, wo Ihr zum Thema Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur forscht und praktiziert. Welches Material beschäftigt Euch derzeit und gibt es ein Material, das Du in Zukunft gerne mehr erforschen möchtest?

Bei der Auswahl der Materialien gibt es keine Grenzen. Ich bin offen für alle "verfügbaren Ressourcen". Zurzeit arbeiten wir in Kopenhagen zum Beispiel mit einem großen Team von Chemikern und Polymeringenieuren an einem EU-Projekt namens "REPurpose", das darauf abzielt, neue Arten von Kunststoffen zu produzieren, die aus Abfallströmen gewonnen werden. Unsere Aufgabe bei BioMat@Copenhagen ist es, aus diesen "unbekannten", neu entwickelten Materialien neue Produkte zu entwickeln. In diesem Fall sehe ich dieses Material als eine Ressource, die eine neue interessante Herausforderung für mich als Architektin darstellt. Im Gespräch mit Materialentwickelnden geht es darum, die wichtigsten Eigenschaften des Materials zu ermitteln, damit es in der Bauindustrie eingesetzt werden kann, aber auch um die Möglichkeiten, seine Kreislauffähigkeit zu gewährleisten, um die versprochene Nachhaltigkeit bei seiner Anwendung zu erreichen. 

In Stuttgart läuft derzeit ein Projekt über vertikale Landwirtschaft, bei dem wir mit Fachleuten der Biologie des Fraunhofer IME in Aachen und zwei weiteren Unternehmen zusammenarbeiten, die ein System von vertikalen landwirtschaftlichen Einheiten entwickelt haben, das sowohl in bestehenden als auch in neuen Gebäudetypen eingesetzt werden kann. In diesem Fall handelt es sich bei dem Material eher um ein "System" einer rotierenden vertikalen Landwirtschaftseinheit namens "Orbiloop", und unsere Aufgabe bei BioMat@Stuttgart ist es, die Energieeffizienz bei der Anwendung dieses Systems in Gebäuden zu verbessern, indem wir passive Konzepte verwenden und verschiedene Szenarien für die Anwendung desselben Systems in unterschiedlichen Kontexten entwerfen. Viele weitere Ideen, Materialien und Systeme sind Gegenstand der zukünftigen Arbeit in den BioMat-Gruppen in Stuttgart und Kopenhagen.
Bild: robotischer Aufbau eines TFP Fassadenpaneels © BioMat

Biobasiertes Material vs. recycletes Material – Worin siehst Du die Chancen? 

Jedes von ihnen verspricht Nachhaltigkeit, doch müssen verschiedene Aspekte von Qualität und Kreislaufwirtschaft berücksichtigt und begriffen werden. Echte Chancen werden darin gesehen, High-End-Lösungen zu entwickeln, die auf dem Markt mit anderen bekannten Lösungen konkurrieren können. Ob biobasierte Materialien oder andere Materialien aus Abfallströmen, es gibt viele Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. 

Ich habe viel an Strohfasern gearbeitet, die sowohl "biobasiert" als auch "recycelte landwirtschaftliche Reststoffe" sind. Es bestand die große Chance, hochwertige Bauelemente und Lösungen zu erreichen. Dies konnte durch die Anwendung verfügbarer Technologien und Fertigungssysteme erreicht werden, die glücklicherweise im digitalen Zeitalter, in dem wir heute leben, vorhanden sind, z. B. computergestützte Entwurfswerkzeuge, digitale Fertigungssysteme, Simulationstechnologien, Überwachungsmethoden usw. 

Die wirklichen Chancen liegen in der multidisziplinären Zusammenarbeit zwischen Fachleuten aus Architektur und Design, Materialentwicklung, Herstellung, Geodäsie, Bauingenieurwesen und anderen, um die Eigenschaften dieser Materialien auf die benötigten spezifischen Ziele, Anwendungen und attraktiven Entwürfe abzustimmen. In diesem Zusammenhang hat jede unkonventionelle "Ressource" ein unbegrenztes Potenzial, unserer Gemeinschaft zu dienen, indem sie die Umweltbelastung unserer gebauten Umwelt verbessert und die Qualität und Kreislauffähigkeit steigert.

Bild oben: Herstellungsprozess maßgeschneiderter Elemente des BioMat Pavillions 2019 © BioMat
Bild unten: Flexflax maßgeschneiderter Wickelstuhl  © BioMat

BioMat. TGU @ TTI GmbH: Sustainable Design & Building Technology Services

In BioMat TGU gibt es drei Geschäftsbereiche: 
> Technologieentwicklung für nachhaltige Architektur und grüne Technologien 
> Architekturbüro - Arbeit als eingetragene Architektin in der Architektenkammer BW 
> Bauelemente und Möbel: Design, Entwicklung & Verarbeitung 

Wir bieten Dienstleistungen in den Bereichen nachhaltiges Entwerfen und grüne Bautechnologien an. Unser Ziel ist innovative Lösungen für die nachhaltige Architektur der Zukunft zu entwickeln. Unser Designphilosophie sieht Materialeigenschaften als Gestaltungsmittel und kombiniert die Bereiche Materialforschung, Architekturplanung und digitale Fertigung, um machbare, nachhaltige Anwendungen für die gebaute Umwelt zu schaffen.


Die Personen dahinter sind:
Förderorganisationen, Mitarbeitende und Mitglieder des BioMat-Teams, Kooperationspartnerschaften in allen Projekten in Stuttgart und Kopenhagen, Verbundforschungszentren in Stuttgart, Europa, den USA, Australien, Neuseeland, Ägypten und weltweit, alle interessierten und kooperierenden Kundschaften, sowohl Unternehmen als auch normale Nutzende.


Die Produkte:
Unsere Produkte kommen in Form von Dienstleistungen und direkten Produkten. Dies kommt in drei Kategorien vor: Architektur-Dienstleistungen, technologische Entwicklungen für nachhaltige Architekturanwendungen und Gestaltung bis hin zur Produktion von direkten Produkten und Bauelementen. Zu letzteren gehören zum Beispiel Bioflexi-Produkte, 3D-gedruckte Produkte, Fassadenelemente, Möbel, Schalenkonstruktionen und andere kundenspezifische Lösungen, je nach Projekttyp und Bedarf.

Bild: Maßgeschneiderte thermische Sandwichpaneele aus Bioverbundwerkstoff© BioMat, Masih Imani

Material, das Ihr braucht

Jede lokal verfügbare erneuerbare Ressource

Material, das Euch bewegt

Pflanzenbasierte Materialien

Material, von dem Ihr träumt

langlebige erneuerbare und zirkuläre nachhaltige Materialien


Bild : BioMat-Team vlnr: M.Sc. Asmaa Hassan, Dr.-Ing. arch. Jan Petrš, M.Arch. Piotr Baszyński, Assoc. Prof. Dr.-Ing. Arch. Hanaa Dahy, Dipl.-Ing. M.Arch. Evgenia Spyridonos, M.Sc. Vanessa Costalonga, M.Sc. Paulina Grabowska  © BioMat

BioMat TGU@TTI GmbH

Nobelstraße 15
70569 Stuttgart

contact@hanaadahy.com
www.hanaadahy.com


Bild: Assoc. Prof. Dr.-Ing. M.Sc. Eng. Arch. Hanaa Dahy © BioMat

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